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Sind wir nicht alle ein bisschen Märtyrer?

Aha. Nun titelt also sogar die seriöse NZZ:


martyrium

Ok, ich kann die Journalistinnen und Journalisten ja verstehen: “Kampuschs Leiden auf Leinwand gebannt” klingt irgendwie banal und alltäglich und gibt die enormen Qualen wohl nur ungenügend wieder, die die junge Frau während 3096 Tagen hat erleiden müssen. Also rasch einen Blick ins Synonym-Wörterbuch werfen! “Martyrium” findet sich da – ein elegantes und eloquentes Fremdwort, das zudem ungleich heftiger und qualvoller klingt als “Leiden”.

Bin ich der einzige, den dieser bedenkenlose Gebrauch des Wortes stört? Denn ein Martyrium im ursprünglichen Wortsinne ist ein Leiden oder sogar Sterben für die eigenen Überzeugungen bzw. den eigenen Glauben. In diesem Wortsinne wäre Frau Kampusch wegen einer bestimmten Überzeugung gefangengehalten worden. Heisst also: Hätte sie diese Überzeugung verleugnet, wäre sie freigelassen worden. Dass dies völlig verquer ist und so gar nicht den tatsächlichen Ereignissen entspricht, braucht hier wohl nicht näher ausgeführt zu werden.

Gewiss: Wer das Wort als Synonym für Qualen aller Art benutzt, ist auf der sicheren Seite. Schliesslich gesteht sogar der Duden –  obwohl präzise in der Begriffsdefinition – in seinen Beispielsätzen dem Wort seine übertragene Bedeutung ein. Klar, die Sprache wandelt sich, Ausdrücke entfernen sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung und werden in neuem Kontext verwendet. Das ist der natürliche Gang der Dinge. Dies aufhalten zu wollen, wäre ein Kampf gegen Windmühlen. Doch in diesem Fall wäre eine etwas bewusstere Verwendung der Sprache trotzdem schön – nicht zuletzt aus Respekt denjenigen gegenüber, die von den Medien vorschnell zu Märtyrerinnen gemacht werden. Denn der Begriff wird heute schon zur Genüge anderweitig arg missbräuchlich strapaziert.

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