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Irgendwie gut

Aktualisiert: 18. Feb. 2024


Werbung hat ja die zweifelhafte Eigenschaft, Ausdrücke durch ihre Banalität zu entwerten. “Radikal tiefe Preise” sind nicht einfach tiefere Preise, es sind krass enorm tiefe Preise. “Radikal anders” ist nicht einfach anders, sondern von einer völlig neuartigen, noch nie dagewesenen Andersartigkeit. Und eine “radikale Räumung” ist nicht einfach eine Räumung, sondern… ja, man kann es sich denken.


Trotz des inflationären Gebrauchs bleibt das Wörtchen “radikal” aber ein gern gesehener Gast auch in gehobeneren Texten. Durchforstet man beispielsweise konteporäre Rezensionen (ob Film, Theater, Musik spielt gar nicht so eine Rolle), ist man erstaunt ob der geballten Menge Radikalität, die einem hier entgegenschlägt. Radikal ist offensichtlich irgendwie gut, denn es wird fast ausschliesslich in bewundernd-positivem Kontext verwendet. Wie beispielsweise von der Jury des “Prix de Soleure”, die den Begriff virtuos gleich dreimal eingeflochten hat in ihre Begründung zum diesjährigen Solothurner Siegerfilm.


Das wirft jetzt mein Weltbild ein bisschen durcheinander, denn bislang habe ich ja bei Radikalen eher an glatzköpfige Neonazis als an begnadete Filmemacher gedacht. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Schauen wir also doch mal, wie duden.de den Begriff definiert. So lerne ich, dass “radikal” folgende Bedeutungen haben kann:


a. von Grund aus erfolgend, ganz und gar; vollständig, gründlich b. mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorgehend, durchgeführt o.Ä.
 eine extreme politische, ideologische, weltanschauliche Richtung vertretend [und gegen die bestehende Ordnung ankämpfend]
(Mathematik) die Wurzel betreffend

Nun gut. Als Filmkritiker interessiert mich natürlich, welche Begriffsdefinition auf einen “radikalen Film” angewendet werden kann. Bedeutung 3 können wir in diesem Kontext sicher mal vergessen. Bedeutung 2 erklärt wiederum meine obige Neonazi-Assoziation, scheint mir im künstlerischen Kontext aber eher unpassend. Und auch Bedeutung 1a scheint mir irgendwie nicht geeignet, einen Film zu charakterisieren. Wer sagt schon: “Dieser Film ist echt ganz!” oder “ein durch und durch von Grund auf erfolgender Film”? Nöö – immerhin sind wir hier aber bezüglich Laden-Räumung etwas schlauer: eine radikale Räumung ist demnach einfach eine vollständige Räumung. So weit, so banal.


Mit Bedeutung 1b rücken wir der Sache wohl etwas näher.Wobei ich ob des ratlosen “o.Ä.” am Ende ja schon ein wenig schmunzeln muss. Hey Duden, du bist die heilige Schrift der deutschen Sprache, ich möchte da keine verlegenen Abkürzungen, die besagen, dass du es eigentlich auch nicht so genau weisst! Aber der zuständige Autor dürfte wohl wie ich einfach ein bisschen Feldrecherche betrieben haben und nach der Lektüre schwammiger Rezensionen selbst nicht so richtig verstanden haben, was diese mit “radikal” eigentlich genau meinen.


Kommen wir also nochmals auf Definition 1b zurück: mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorgehend. Nun… rücksichtslos und hart wem gegenüber? Wohl den Zuschauern. Da fallen mir als erstes Filme wie “Saw” und “Hostel” ein oder noch hässlichere Vertreter des Genres. Hart sind die wohl auf jeden Fall und in ihrer Gewaltdarstellung wohl auch ziemlich rücksichtslos gegenüber den (Ekel-) Gefühlen der Zuschauer. Sind solche Filme also radikal? Der Feuilletonist in mir schüttelt angewidert den Kopf.


Aber holen wir doch Hilfe vom Profi! Christian Jungen, seines Zeichens Filmkritiker bei der NZZ und somit sicher eine der führenden Stimmen des Metiers in der Schweiz (von mir auch respektiert), nannte anlässlich der letztjährigen Solothurner Filmtage vier Vertreter der cineastischen Avantgarde, die somit wohl auch als radikal durchgehen: Carlos Reygadas, Leos Carax, Nuri Bilge Ceylan und Apichatpong Weerasethakul. Man könnte sich jetzt vor einem Multiplex-Schuppen, oder meinetwegen auch einem Arthouse-Kino, postieren und 100 Kinogänger fragen, ob ihnen die Namen ein Begriff sind. Ich prophezeie ein niederschmetterndes Resultat. Doch gerade damit kommt mir eine leise Ahnung. Denn das Hauptkriterium für einen im Feuilleton als radikal betitelten Film scheint mir tatsächlich die Massen-Untauglichkeit, die Tatsache, dass möglichst wenig Zuschauer den Film kennen geschweige denn mögen. Die in der Begriffsdefinition enthaltene Rücksichtslosigkeit bezieht sich in diesem Kontext also auf die ästhetischen Ansprüche und Erwartungen des Massenpublikums.


Ok, damit hätten wir doch eine zumindest anssatzweise befriedigende Definition. Doch ist eine solche Massenuntauglichkeit per se als positives Attribut für einen Film zu werten? Wenn ja, nehme ich meine Handycam, filme drei Stunden lang die Wand in meiner Wohnung, unterlege das Video mit psychodelischer Musik und stelle es nachher auf Youtube. Danach warte ich darauf, von der Filmkritik als “kompromissloser und radikaler Filmemacher” entdeckt und gefeiert zu werden.


Bis es so weit ist, kann ich ja noch ein wenig die Konkurrenz studieren. Mit Reygadas habe ich meine Mühe (was mich in den Augen des NZZ-Kollegen leider zum grobsinnigen Banausen macht), hingegen finde ich Carax faszinierend (hier meine Rezension zu “Holy Motors”) und Ceylan zumindest interessant und herausfordernd (Kritiken hier und hier). Mit Weerasethakul hatte ich bisher noch nicht das Vergnügen. Ich freue mich aber darauf, mich anlässlich der Premierenparty in Cannes mit meinem künftigen Kollegen über das radikale Kino von heute zu unterhalten. Dank meiner Recherche weiss ich nun ja auch, wovon ich rede. Hoffe einfach, das Massenpublikum kommt nicht dahinter.

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