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Leiden in Französisch

Aktualisiert: 18. Feb. 2024

Ein Drama in 42,195 Akten


Prolog: Auf der “Bucket List” steht es ja schon lange, dieses Jahr sollte es nun ernst gelten: Endlich einen Marathon laufen! So lautete der der Neujahresvorsatz, den ich Ende 2014 zusammen mit meinem Bruder gefasst habe. Leider hat dieser eine Woche vor dem Lauf verletzungshalber Forfait geben müssen. Dafür wird er mich nun an der Strecke anfeuern. Und zwar an derjenigen des Genève Marathon, wo ich also mit 36 Jahren meine Feuertaufe über die Königsdisziplin bestehen möchte.


Kilometer 0: Chêne-Bourg, 09:45. Trotz mieser Wetterprognose nieselt es nur leicht. Ich fühle mich gut, und die Dixieland-Band am Start beschwingt mich. Mein Leidensgenosse und ich reihen uns im hinteren Feld zwischen dem 4:00- und dem 4:15-Pacemaker ein. Mein offizielles Ziel: Ich will finishen. Mein inoffizielles Ziel: Vielleicht schaffe ich ja die 4-Stunden-Marke. Doch zu ambitioniert möchte ich nicht sein. Schliesslich bin ich unsicher, wie meine Problemstelle, die Achillesferse, der Belastung standhalten wird.


Kilometer 1: Start! …oder doch nicht. Da will man loslaufen und wird auch schon wieder gestoppt. Fehlalarm, der Start findet gestaffelt start, der Startschuss galt der Gruppe vor uns. Nochmals einige Sekunden nervös rumhüpfen. Jetzt aber! Nun geht’s definitiv los. Und hui, die beiden Pacemaker gehen ja gleich los wie eine Rakete! Der 4:15er hat uns überholt, noch ehe wir richtig gestartet sind, und schlägt ein Tempo ein, das uns spontan doch ein bisschen hoch scheint für die angepeilte Zeit.


Kilometer 2: Durch den Dauerregen an den Vortagen hat’s immer wieder riesige Tümpel auf der Strasse. Auch wenn mich mein Mitläufer noch extra warnt, geht’s nicht lange und ich ziehe den ersten Schuhvoll raus. Während genau zwei Kilometern sind meine Füsse einigermassen trocken geblieben. Let the Wasserschlacht begin!


Kilometer 3: Sämtliche Laufbücher und Marathon-Finisher geben Novizen wie mir ja hauptsächlich den einen Tipp: Nur nicht zu schnell starten! Diesen Ratschlag im Hinterkopf, habe ich mir fest vorgenommen, die ersten 10 Kilometer nicht schneller als 6 Minuten pro Kilometer zu laufen. Ein bisschen weiter vorne ist immer noch die Fahne des 4:15-Pacemakers und noch etwas weiter vorne diejenige des 4:00-Pacemakers zu erkennen. Aber wisst ihr was, ihr Pacemaker, ihr könnt mich mal! Ich traue nur meiner eigenen Uhr.


Kilometer 4: Zwei sportlich aussehende Jungs scheinen ungefähr die selbe Pace einzuschlagen wie ich. Durch die beiden mit den Namen “Loulou” und “Doudou” bedruckten schwarzen T-Shirts haben die beiden einen hohen Wiedererkennungswert. Loulou und Doudou! Die sehen irgendwie routiniert und abgeklärt aus, die laufen bestimmt nicht ihren ersten Marathon! Ich beschliesse, die beiden für die nächsten paar Kilometer als Orientierungspunkt zu nehmen.


Kilometer 5: Erste Verpflegungsstation! Bananen, Orangen, Wasser, Isostar. Das ist ja ein regelrechtes Buffet hier. Dann mal ordentlich zulangen, der Weg ist ja noch lange. Nutzen wir die Gelegenheit gleich für einen kurzen Statuscheck: Achillesferse: Hält. Übrige Gelenke: Alles im grünen Bereich. Motivation: Vorhanden: Psychische Befindlichkeit: Immer besser.


Kilometer 6: Wir erreichen die Abzweigung, an der sich die Strecke das einzige Mal im ganzen Rennen kreuzt. In rund 22 Kilometern werde ich hier nochmals passieren. Wie’s mir dann wohl gehen wird? Im Moment laufe ich jedenfalls wie ein Schweizer Buchhalter, peinlich darauf bedacht, meine Kräfte nicht zu früh zu verpuffen. Auf dem letzten Kilometer war ich zehn Sekunden zu schnell. D’oh!


Kilometer 7: Mein Leidensgenosse, der mir bis anhin Gesellschaft geleistet hat, verabschiedet sich. Er möchte einen Zahn zulegen. Ich nehm’s gelassen und bleibe konsequent bei meiner Pace. Vielleicht hole ich ihn später ja wieder ein. Spoiler: Er wird im Ziel 17 Minuten schneller sein als ich.


Kilometer 8: Zwar ist erst ein knappes Fünftel der Strecke absolviert, dennoch werde ich plötzlich von Optimismus gepackt: Ich schaffe es! Ich fühle mich gut, die Problemstellen machen bislang keinerlei Macken, ich laufe konsequent mein Tempo und habe noch Reserven. Mich durchströmt ein wohliges Gefühl der Gelassenheit.


jussy

Doch ganz hübsch hier, nicht?


Kilometer 9: Mit meiner frischen Gelassenheit geniesse ich die Strecke und schaffe es dabei auch, die Umgebung bewusst wahrzunehmen. Die ist nämlich trotz trister Regenstimmung durchaus idyllisch. Wir sind in der Vorortsgegend südöstlich von Genf nahe der Landesgrenze und rennen durch mir bislang völlig unbekannte, aber schmucke kleine Dörfer namens Meinier, Gy oder Jussy. Auch ein Schloss kann ich erkennen. Ich laufe mit einem Lächeln auf den Lippen.


Kilometer 10: Ganz vertieft mit meinem Sightseeing, habe ich zunächst gar nicht richtig realisiert, dass die weisse Fahne des 4:15-Pacemakers immer nähergekommen ist. Und dies, ohne dass ich hierfür mein Tempo gross habe steigern müssen, denn ich bin immer noch Buchhalter-mässig im 6er-Schnitt. Als ich nach einer gemütlichen Stunde die 10-Kilometer-Marke passiere, ist die Fahne nur noch einige wenige Schritte vor mir.


Kilometer 11: Ich habe nun den Pulk erreicht, der sich hinter dem 4:15-Pacemaker gebildet hat. Der erste Impuls ist, gleich an der Gruppe vorbeizuziehen, doch da meldet sich wieder mein innerer Buchhalter. Nur nicht zu übermütig werden. So reihe ich mich erstmal an der Spitze der Gruppe ein, die von Denis – so heisst der Pacemaker gemäss T-Shirt-Aufdruck – immer wieder mit Durchhalteparolen motiviert wird.


Kilometer 12: Denis fragt immer wiedermal eines seiner Schäfchen, ob dies denn sein/ihr “Premier marathon” sei. So erfahre ich denn auch, dass es sich bei den beiden vermeintlich routinierten Marathonläufern Loulou und Doudou, die sich mittlerweile auch im Grüppchen eingefunden haben, ebenfalls um Novizen handelt. Merke: Nie nach den äusseren Eindrücken urteilen!


Kilometer 13: Zwischen Denis und mir hingegen entsteht vorerst kein wirklich substanzielles Gespräch. Daran bin ich aber auch selbst schuld. So fällt mir auf seine Premier-Marathon-Frage nur ein mühsam rausgepresstes “Oui!” ein. Das liegt auch an meinen Franz-Kenntnissen, irgendwie bin ich grad nicht so zu einer gepflegten Fremdsprachen-Konversation aufgelegt. Ich kann’s Denis daher nicht übel nehmen, dass er sich lieber etwas gesprächigere Gspänli in der Gruppe sucht.


Kilometer 14: Immer mal wieder überholen uns Staffelläufer. Vor zwei Wochen am Zürich-Marathon war ich selbst so einer und wurde immer etwas vom schlechten Gewissen geplagt, wenn ich so locker an einer kämpfenden Gruppe vorbeizog. Nun habe ich also die andere Perspektive. Nein, ich hasse sie nicht, die Stäffeler. Ich empfinde eher ein Gefühl der latenten Überlegenheit. So in der Art: “Jaja, wenn ich nur so wenige Kilometer rennen müsste, könnte ich dein Tempo auch easy halten. Aber eigentlich wissen wir ja beide, dass die wahren Helden wir Marathoner sind.”


Kilometer 15: Da ich im Voraus fleissig das Streckenprofil studiert habe, weiss ich, dass wir mittlerweile den höchsten Punkt der Strecke erreicht haben. Die insgesamt 100 Höhenmeter waren easypeasy! Ich fasse einen Entschluss: Noch bis zur Streckenhälfte bleibe ich mit dem Denis-Grüppchen. Danach werde ich mich nach vorne verabschieden und aufs Tempo drücken. Der Griff nach den Sternen – also die magische 4-Stunden-Marke – scheint machbar!


Kilometer 16: Es geht mir gut. So kann ich während des Laufens auch bereits ein wenig ans “Nachher” denken. Ich habe den Einfall, meine Gedanken und Gefühle während des Laufes in einem launigen Blog-Eintrag festzuhalten, ein wenig nach dem Vorbild des Debütantinnen-Berichtes “Einmal im Leben” von Anja Jardine im NZZ-Folio, den ich zur Vorbereitung ebenfalls gelesen habe. Die Aussicht auf literarische Ergüsse nach dem Lauf motiviert mich noch einmal, und mein Hirn beginnt bereits, Erlebnisse für eine spätere Niederschrift abzuspeichern.


Kilometer 17: Mein fröhlicher Gedankenfluss wird von einem kurzen Alarmsignal von der rechten Wade unterbrochen. Hallo Hirn, meldet diese, der Muskel ist irgendwie versteift oder so, bitz unangenehm. Ok, zur Kenntnis genommen, aber gut, da musst du jetzt durch, liebe Wade. So ganz ohne Schmerzen werde ich diesen Marathon ja wohl nicht absolvieren, ich bin ja schliesslich nicht blauäugig. Aber so schlimm ist es ja nun auch noch nicht. Ein bisschen auf die Zähne beissen, das geht schon vorbei.


Kilometer 18: Ich habe ja bereits einige Halbmarathons absolviert in meiner Laufkarriere. Kilometer 18 war jeweils der Punkt, an dem es spätestens zu kriseln begann. Am Greifenseelauf beginnt bei dieser Marke der mühsame Aufstieg nach Uster. Nun habe ich diese Marke erreicht und fühle mich  – mal abgesehen von diesem kleinen Dings an der Wade – noch wunderbar frisch und entspannt.


Kilometer 19: Entgegen meinem bei Kilometer 15 gefassten Vorsatz entschliesse ich mich, das Denis-Grüppchen bereits jetzt zu verlassen, zwei Kilometer vor der Streckenhälfte. Schliesslich fühle ich mich immer noch prima, und wenn ich die heimlich anvisierten 4 Stunden schaffen will, kann’s nicht schaden, jetzt schon ein wenig auf die Tube zu drücken. So hole ich relativ locker einige 100 Meter auf die Gruppe heraus.


Kilometer 20: Die Wade ist offensichtlich beleidigt, dass ich ihre Probleme vorher nicht richtig ernstgenommen habe, und revanchiert sich mit einer jähen Krampferscheinung. Diese ist so schmerzhaft, dass ich einige Schritte humpeln muss. Die Stimmung schwankt von himmelhochjauchzend zu niedergeschmettert. Das war’s, schiesst es mir durch den Kopf. Fertig vom Marathon geträumt, bittere Aufgabe nach 20 Kilometern. Zu allem Übel beginnt es nun auch noch richtig stark zu regnen.


Kilometer 21: Die negativen Gedanken habe ich ganz schnell wieder weggewischt. Nach einigen hastigen Dehnübungen bin ich weitergerannt, und so passiere ich jetzt mit Schmerzen die Halbmarathon-Marke. Zeit: 2 Stunden und 5 Minuten. Jetzt ein Halbmarathon in 1 Stunde 55 Minuten, und ich hab die 4 Stunden. Eigentlich ja ein realistischer Ansatz, aber angesichts meiner Leiden muss ich mir eingestehen, dass ich das nicht schaffe. So versuche ich einfach, wenigstens den Anschluss ans Denis-Grüppchen nicht zu verlieren, das mich mittlerweile wieder überholt hat.


Kilometer 22: Strömender Regen, schmerzende Wade, noch 20 Kilometer zu laufen. Das muss der Tiefpunkt sein. Mir ist klar: Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem man etwas machen muss. So zücke ich vor der nächsten Verpflegungs-Station das erste meiner vier Energy-Gels, obwohl der Plan eigentlich wäre, dieses erst bei Kilometer 25 einzunehmen. Egal! Ich brauche den Energieschub, und ich brauche ihn jetzt. Das ist ein Notfall!


Kilometer 23: Siehe da: Das Gel wirkt tatsächlich. Wie viel von dieser Wirkung tatsächlich auf die Zusammensetzung des Gels zurückzuführen ist und wie viel auf den Placebo-Effekt, ist mir in diesem Augenblick reichlich egal. Es geht besser, die Wade schmerzt auch nicht mehr so stark. Nach dem Tiefschlag bei Kilometer 20 glaube ich wieder daran, das Ziel zu erreichen. Und setze mir ein neues Zeitziel: 4:15! Einfach bei Denis dranbleiben, und alles kommt gut.


Kilometer 24: Der Regen hat wieder nachgelassen, dafür haben wir jetzt den Asphalt verlassen und bewegen uns im Schlamm. Naja, im Schlamm mag etwas übertrieben sein, es ist lediglich ein nasser und von Pfützen durchsetzter Feldweg. Aber das ständige Aufpassen, dass man nicht kopfüber im Dreck landet, kostet einiges an Kraft.


Kilometer 25: Die 25 Kilometer sind eine psychologisch wichtige Marke. Doch diese will und will nicht kommen. So langsam scheint mir, dass die diabolischen Streckenplaner absichtlich die Kilometer-Markierungszeichen in der zweiten Streckenhälfte weiter auseinander platziert haben. Warum machen die das? Und was können wir armen Läufer dafür?


Kilometer 26: Wir laufen in engen Abständen auf dem Schlamm-Weg. Auch Loulou und Doudou bekunden ihre Mühe. Während Loulou etwas zurückfällt, laufe ich eine Weile Seite an Seite mit Doudou. Marathon-Novizen unter sich! Einige Positionen weiter vorne läuft der 4:15-Guru Denis wie ein Uhrwerk. Derweilen beginnen sich bei mir auch andere Wehwechen zu melden. Die Knie und die Füsse streiten sich mit der Wade um den Anspruch, dasjenige Körperteil zu sein, das am meisten schmerzt.


Kilometer 27: Denis muss mal austreten, menschliches Bedürfnis. Er sei gleich wieder da, versichert er uns. Doudou und ich und der Rest des Grüppchens, das mittlerweile eher ein versprengter Haufen ist, sind nun für ein paar Minuten auf uns alleine gestellt. Allerdings nicht besonders lange. Denn kurz darauf trabt Denis wieder locker an mir vorbei. Ach. Guter alter Denis. Erhöht eben schnell mal das Tempo für einen Zwischensprint, um die angestammte Position wieder einnehmen zu können. Desweilen keuche ich still leidend vor mich hin.


Kilometer 28: Ich erkenne die Kreuzung wieder, wo wir vor über 20 Kilometern durchgejoggt sind. Wir biegen nun wieder in die Halbmarathon-Strecke ein – mit den entsprechenden Kilometermarkierungen. Darauf hätte ich nun glatt verzichten können. Wäre nicht nötig gewesen, mir aufs Auge zu drücken, dass wir im Halbmarathon erst bei Kilometer 7 (!) sind. Also noch nirgends! Auch wenn das rechnerisch durchaus Sinn ergibt, ist es psychologisch eben doch ein riesiger Unterschied, ob man sich nun auf Kilometer 28 von 42 oder auf Kilometer 7 von 21 befindet.


Kilometer 29: Endlich verlassen wir die anstrengenden Pflotsch-Wege und betreten wieder sicheren Asphalt. Dabei fällt mir auf, dass Loulou und Doudou verschwunden sind. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie vor mir oder hinter mir sind, aber wenn mich nicht alles täuscht, sind sie hinter mir. Aus unerklärlichen Gründen fühle ich mich nun plötzlich etwas stolz, die beiden abgehängt zu haben. Ein bisschen Ego-Massage zwischendurch kann enorm hilfreich sein für die Motivation! Später werde ich übrigens herausfinden, dass zumindest Doudou 5 Minuten vor mir im Ziel war.


Kilometer 30: Nachdem ich auf der ersten Streckenhälfte bei jedem Kilometer die Uhr gecheckt hatte, plagten mich auf den letzten zehn Kilometern andere Sorgen. Nun wage ich aber mal wieder einen Blick. Saubere 3 Stunden für die 30 Kilometer, fast aufs Loch. Also konsequent im 6er-Schnitt, mit dem ich eine Zeit knapp unter 4:15 erreichen könnte. Auf Denis ist eben Verlass. Wer braucht da schon eine Uhr?


Kilometer 31: Meine längste Trainingsdistanz bei der Vorbereitung waren 30 Kilometer. Heisst also: Seit ich die 30er-Marke passiert habe, bedeutet jeder Schritt einen persönlichen Rekord. So weit wie jetzt bin ich vorher noch nie in meinem Leben gelaufen. Wir befinden uns mittlerweile wieder in der Stadt Genf, und gemäss dem in meinem Kopf gespeicherten Streckenprofil sollte irgendwann der See ins Blickfeld rücken. Ein wichtiger Orientierungspunkt, denn am See beginnt sozusagen die lange Zielgerade.


Kilometer 32: Beim Passieren der 32-Kilometer-Marke macht mein Herz einen Freudensprung, denn anscheinend habe ich tatsächlich die 31-Kilometer-Marke verpasst. Entweder habe ich sie nicht gesehen, oder ich habe sie wohl gesehen, aber nicht registriert. Wie auch immer: Ich habe soeben einen Kilometer gewonnen! Man muss sich an den kleinen Dingen freuen. Darauf gönne ich mir doch gleich ein zweites Gel.


Kilometer 33: Denis motiviert ja jeweils nicht nur die Mitläufer, sondern auch die Zuschauer. Immer dort, wo sich eine grössere Menschenmenge angesammelt hat, animiert er diese, uns anzufeuern. An der Strassenecke, die ich jetzt passiere, sind Denis’ Motivationskünste jedoch nicht nötig. Denn hier steht meine persönliche Support-Crew! Die beiden feuern mich nach Kräften an. Grossartiger Moment, nach 33 Kilometern einsamen Leidens! Schade nur, dass sie nicht gleich mit mir mitrennen können für die letzten 9 Kilometer.


Kilometer 34: Endlich! Der See! Der Jet d’Eau! Genf zu meinen Füssen! Kleiner Makel: Man sieht nun auch gnadenlos, wie weit es noch ist bis ins Ziel. Schon noch ein zünfiges Stück. Zumal das Ziel noch nicht erreicht ist, wenn man das Ende des Sees erreicht hat. Denn dann kommt zum Dessert noch eine 2 Kilometer lange Zusatzschlaufe. Soll ich mich nun freuen, die Endphase des Rennens erreicht zu haben, oder verzweifeln daran, wie lange es immer noch geht?


Kilometer 35: Gemäss Laufbüchern und Erfahrungsberichten aus aller Welt kommt bei Kilometer 35 die berühmt-berüchtigte “Wand”. Um ehrlich zu sein, spüre ich diese Wand nicht. Man verstehe mich nicht falsch: Nicht dass ich mich toll fühlen würde! Oh nein, ich kämpfe auf dem letzten Zacken. Aber wesentlich schlechter als auf Kilometer 34 fühle ich mich nun auch wieder nicht. Von daher: Alles halb so wild, einfach weiterlaufen. Ich versuche weiterhin, an Denis dranzubleiben, denn ich weiss: Wenn der weg ist, wird es noch viel schwieriger. Mental und so.


Kilometer 36: Das ursprüngliche Denis-Grüppchen ist zusammengeschrumpft. Stattdessen rollt es das Feld der Erschöpften von hinten auf. Diejenigen, die am Gehen sind, fordert Denis lautstark dazu auf, sich uns anzuschliessen für die letzten paar Kilometer. Woher um alles in der Welt hat der Typ die Energie, noch dermassen zu schreien? Ich selbst bringe ausser einigen gedämpften “Fuck” zwischendurch kaum ein gerades Wort über die Lippen. Auch nicht, als ich am Strassenrand einen weiteren, extra für mich angereisten Unterstützungstrupp ausmache.


Kilometer 37: Höchste Zeit für mein drittes Gel. Bei der Hinweistafel “200 Meter bis zur Verpflegung” schiebe ich es mir hastig rein. Mein Gott, ist das eine hässliche Plörre! Ich hätte besser noch gewartet, bis die Verpflegungsstation etwas näher ist. Denn 200 Meter können ganz schön lang sein, wenn man die Beine kaum mehr spürt und einen hässlich-verklebten Geschmack im Mund hat.


Kilometer 38: Nach der Verpflegungsstation nochmals loszulaufen, hat eine riesige Überwindung gekostet. Ich kann nicht mehr. Echt nicht mehr. Alles in mir schreit danach, aufzuhören und mich einfach mitten auf der Strasse hinzusetzen. Doch ich weiss: Wenn ich jetzt anhalte, renne ich nicht wieder los. Nie wieder. Also renne ich einfach weiter. Ich denke an die Läufer-Weisheit, dass ein Marathon hauptsächlich im Kopf gelaufen wird. Das muss es wohl sein, dieses Kopf-Ding. Sich zwingen, weiterzulaufen, auch wenn der Körper dagegen rebelliert.


Kilometer 39: Endlich sind wir in der Genfer Innenstadt angekommen. Vom ursprünglichen Grüppli um Denis ist ausser mir – soweit ich das in meiner beschränkten Wahrnehmung ausmachen kann – nur noch eine unauffällige Blondine in Zöpfchen übriggeblieben. “Allez Simon” schreit nun Denis immer wieder. Noch hätte ich ein letztes Energy-Gel in Reserve. Doch ich mag es nicht mehr runterwürgen. Ich will einfach nur noch dieses verdammte Ziel erreichen!


Gemf-Marathon

Ungefähr bei Kilometer 40. Ich war nicht mehr so richtig total fit.


Kilometer 40: Wir überqueren die Rousseau-Brücke, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Zielbogen auf der Montblanc-Brücke. Bereits beim Studium des Streckenplanes habe ich vermutet, dass mich diese letzte verbleibende Zweikilometer-Schlaufe wohl höllisch anscheissen würde. Zum Glück fehlt mir jetzt aber jegliche Energie, die nötig wäre, mich irgendwie zu ärgern. Ich folge einfach Denis, der sich immer wieder nach seinen Schäfchen umdreht und sie dazu motiviert, die allerletzten Kräfte zu mobilisieren.


Kilometer 41: Der! Letzte! Fucking! Kilometer! So langsam wächst in mir die Gewissheit, dass es nun tatsächlich in Kürze geschafft ist. Ich weiss, dass am Ziel meine Leute warten, und freue mich ungemein darauf, sie zu sehen. Dabei überhole ich Denis. Seine Mission mit mir scheint er als erfüllt zu betrachten, offenbar traut er mir zu, die letzten Meter alleine zu absolvieren. Stattdessen nutzt er die 2-Minuten-Reserve, die er auf die angepeilten 4:15 noch hat, dazu, einige nachfolgende Läuferinnen und Läufer lautstark ins Ziel zu treiben.


Kilometer 42: Jaaaa, es ist… nein, noch nicht ganz fertig. Nun kommen also noch diese ominösen “Komma Eins Neun Fünf”, die sich durchaus lange anfühlen können, wenn man 42 Kilometer in den Beinen hat. Im Vorfeld habe ich mal überlegt, wie ich das Ziel passieren soll. Jubelnd? Mit Grimasse? Nun aber bin ich viel zu erschöpft für irgendeine Show oder grosse Geste und stiere einfach leidenden Gesichtes und unter den Anfeuerungsrufen meiner grossartigen Support-Crew die letzten Meter durch. Kein Schlusspurt, nichts. Einfach laufen, bis ich endlich aufhören darf.


Kilometer 42,195: Verdammte Scheisse, ich hab’s geschafft! Ich ringe um die Balance. Im Ziel halten Fotografen den Moment fest und Helfer verteilen Medaillen. Ich wanke desinteressiert an allen Officials vorbei. Momentan ist es mir wichtiger, die persönlichen Umarmungen meiner vier Supporter entgegenzunehmen. Danach gibt’s noch ein Handshake mit Denis, bei dem ich mich in radebrechendem Französisch für die Motivationskünste bedanke. Den Tränen nahe, möchte ich mich am liebsten bei der ganzen Welt bedanken. So muss es sich anfühlen, einen Oscar zu kriegen.


Epilog: Drei Tage später spüre ich meine Wade, die Achillesferse und noch einige andere Muskeln.

Ausserdem habe ich zwei blutunterlaufene grosse Zehen zu verzeichnen. Aber meine Blessuren trage ich wie eine Trophäe. Ich bin einen Marathon gelaufen! Irgendwo in meinem Innern ruft schon irgendeine Stimme: “Nächstes Ziel: Vier Stunden”! Angesichts der noch frischen Erinnerung an meine Leiden schenke ich dieser Stimme nicht zu viel Beachtung. Und doch bin ich mir bewusst, dass dieser erste Marathon eventuell nicht mein letzter gewesen sein könnte.


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